Helden der Berge

Helden der Berge
Foto: stock.adobe.com/Ekaterina Kolomeets

Woher der Name Akia stammt, weshalb bei einer Rettungsdecke die goldene Seite nach außen zeigen muss und welche Menschen besonders wertvoll sind? Der Autor dieser Geschichte hat die richtigen Antworten parat.

Ja, ich schaue hin und wieder den ZDF-Bergretter und fiebere mit Markus Kofler (Sebastian Ströbel) mit, wenn er waghalsig Menschen aus den Bergen rettet und dabei mitunter das eigene Leben riskiert. Und nein, ich habe keinerlei Lust verspürt, die Arbeit der Bergretter mit mir als Protagonist mitzuerleben. Aber weil das Leben eben kein Wunschkonzert ist und ich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen bin, weiß ich nun, dass Bergretter tatsächlich Helden der Berge sind. Und dass es mehrere Koflers auf dieser Welt gibt. Meine persönlichen Helden kommen aus Immenstadt – und wenn es sie nicht geben würde, läge ich vermutlich immer noch irgendwo unterhalb des Kemptener Naturfreundehauses im Schnee.

Ein wettertechnisch herrliches Wochenende. Die Landschaft ist weiß, der Himmel blau, die Stimmung gut. Wir haben Freunde vom Bodensee und aus Bonn ins Allgäu gelotst – damit die Mädels und Jungs mal hügeligen Kontrast zur sonst flachen Heimat geboten bekommen. Und richtigen Schnee. Die Frage nach dem Programm ist schnell geklärt. Wir einigen uns auf eine mittelschwere Schneeschuh-Wanderung, inklusive Einkehrschwung. Auch der Tourenverlauf ist rasch ausgesucht: Start bei Immenstadt, nahe des Alpsees, dann Aufstieg zum Kemptener Naturfreundehaus. Gemütlicher Einkehrschwung, danach weiter Richtung Gschwender Alp und wieder zum Parkplatz.

Soweit der Plan, aber Sie ahnen: Die Normalität weicht manchmal außergewöhnlichen Umständen. Im Naturfreundehaus freilich läuft noch alles nach Plan. Es ist launig an diesem Tag, aber wir bleiben nicht ewig sitzen, schließlich wollen wir uns ja bewegen und die Natur genießen. Also wieder die Schneeschuhe anschnallen, Stöcke greifen und weiter geht‘s in Richtung Alpe Gschwenderberg. Wie schon erwähnt, wir sind zu siebt. Fünf unserer Gruppe sind einige Meter voraus, Frank und ich haben uns einiges zu erzählen und folgen mit gebührendem Abstand.

Nun ja, versuchen wir es an dieser Stelle mit der launig-sarkastischen Variante: Es ist bis heute nicht genau überliefert, wie lange mein Freund noch weitererzählt, ehe er den Blick endlich nach rechts zu mir wendet – und keinen Schneeschuh-Partner mehr sieht. Nein, ich verfüge mitnichten über die Fähigkeit, mich so mir nichts, dir nichts in Luft aufzulösen. Dass Frank seinen Schneeschuhpartner nicht mehr sieht, hat eher etwas mit den Gesetzen der Schwerkraft zu tun.

Wechseln wir geschwind die Perspektive: Ich laufe also mit meinen Schneeschuhen neben meinem Freund, höre ihm zu und spüre plötzlich einen brachialen Schlag auf meiner kompletten rechten Körperseite, von unten bis ganz oben, von der Wade bis zur Schulter. Die Wucht eines Aufpralls zwingt mich sofort in die Knie. Na ja, was heißt in die Knie. Ich liege mit dem gesamten Körper im Schnee. Ich bin außer Gefecht gesetzt. Erst allmählich wird mir (und auch den anderen) klar, was da soeben passiert ist. Zwei Tourengeher haben ihre Skier bei der Abfahrt nach dem Naturfreundehaus ordentlich laufen lassen. Der eine von ihnen vermutlich zu schnell. Zudem hat er mich erst spät gesehen und in Sekundenschnelle eine falsche Entscheidung getroffen: Er will rechts an mir vorbeisausen. Aber rechts neben mir ist kein Platz, sondern ein Hang. Oder in diesem Fall eben mein rechter Fuß, die rechte Wade, das rechte Bein, die rechte Hüfte, der rechte Oberarm und so weiter.

Der brachiale Zusammenstoß lässt sich nicht vermeiden: Dem Skifahrer tun Fahrfehler und falsche Überholentscheidung äußerst leid und mir fast alle Knochen weh. Ich komme zwar wieder auf die Beine, kann aber keinen Meter mehr gehen. Was folgt, kenne ich bestens aus der Bergretter-ZDF-Serie: Bei Markus Kofler (Sebastian Ströbel) klingelt das Telefon, weil ihn Rudi (Michael Pascher) von der Zentrale benachrichtigt und die genauen Koordinaten vom Unfallort durchgibt. Bei meinem Malheur ist es zunächst die Leitstelle in Friedrichshafen, die sich meldet, nachdem einer meiner Freunde die 112 gewählt hat. Nach dem dritten Anruf sind dann doch die Helfer der Bergwacht Immenstadt am Apparat. Genaue Koordinaten können wir ihnen aber nicht liefern. Sondern lediglich unseren ungefähren Standort, rund zehn Fußminuten vom Naturfreundehaus Kempten entfernt.

Wie es mit meinen Schmerzen aussieht? Die am Arm sind auszuhalten, jene an der Wade sind allerdings durchaus heftiger Natur. „Wadenbeinbruch“ schießt es mir durch den Kopf und ich merke, wie sich mein Gesicht noch mehr verzieht. Mitten in meinen Überlegungen klingelt erneut das Handy neben mir. Wieder ein Mitarbeiter der Rettungsleitstelle. Wie es dem Patienten gehe, will er wissen. Sehr nett, denke ich, und: „Wenn nur bald die Leute der Bergwacht kommen, denn ich fange an zu frieren.“ Er erkundigt sich, ob die Schmerzen noch auszuhalten sind. Wenn nicht, müsse er den Hubschrauber ordern. Denn die Bergwachtler mit dem Schneemobil bräuchten noch eine Dreiviertelstunde, ehe sie bei mir sind.

Auf mich sind plötzlich alle Augen gerichtet. Die Blicke fragen mich: „Wie ist’s? Hältst du noch eine Dreiviertelstunde durch – oder willst du gleich das große Besteck?“ Ich nehme wahr, wie ich automatisch den Kopf schüttle. Nein, nicht auch noch einen Heli-Einsatz. Die goldene Rettungsdecke aus den Fernsehserien, bei der ich mich immer wundere, wie sie durchgefrorene Menschen wärmen soll, reicht mir vollkommen.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde huscht ein erstes Lächeln über meine Lippen. Mein Rettertrio ist da, zwei Frauen, ein Mann. Nach wenigen Sekunden weiß ich: Bei ihnen bin ich in den besten Händen. Die Fragen nach Schmerzen und Unfallverlauf sind fachmännisch, sie beruhigen mich mit einer einfühlsamen Art, die Erstversorgung passt: Sie stabilisieren den rechten Arm, schienen mein Bein und hieven mich vorsichtig auf den Akia, der vorne auf dem Schneemobil deshalb gut geeignet ist, weil mich die Bergwachtler gut fixieren können und während der Fahrt im Auge haben.

Eine halbe Stunde später bin ich unten im Tal. Dort wechsle ich vom Akia auf die Liege des Krankenwagens, der mich in die Immenstädter Notaufnahme fährt. Zum versöhnlichen Abschluss dieser Bergretter-Geschichte sei versichert, dass der Arzt im Krankenhaus nach Ultraschall und Röntgen mittelstarke Prellungen diagnostizieren wird, also keinen Wadenbeinbruch. Gott sei Dank, und glauben Sie mir, die ZDF-Bergretter-Serie lasse ich mir seither nicht mehr entgegen.

Freddy Schissler

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