
Wer einen Sinn für Sehnsüchte hat, muss sich auf den Weg zu Schloss Neuschwanstein machen. Dort wollte vor vielen Jahren der Bauherr König Ludwig II. nicht regieren, sondern lieber sinnieren, fabulieren und genießen. Den 1,3 Millionen Besuchern jährlich geht es wie Janet Marie Chvatal, Sängerin des Ludwig-Musicals vom Forgensee: Sie staunen, schwärmen und schließen hin und wieder träumerisch die Augen.
Kommen Sie mit, eine Runde träumen. Kommen Sie mit ins Ostallgäu, dort, wo zwei Königsschlösser dafür sorgen, dass nicht nur deutsch gesprochen wird, sondern auch japanisch und chinesisch und englisch, französisch, spanisch, russisch, bulgarisch, rumänisch, polnisch. Neuschwanstein und Hohenschwangau: Unterhalb dieser beiden Königsschlösser befinden sich Parklätze in hoher Zahl, und dennoch muss man oft Glück und einen guten Blick haben, um sein Auto vernünftig abzustellen. Viele Menschen verspüren offenbar den Wunsch zum Träumen, und so spielt vor allem Schloss Neuschwanstein seit langem in der Beletage der touristischen Ziele mit. 1,3 Millionen Besucher zieht es jährlich hierher. Massen von Menschen auf der Spur eines Königs. Dem Mythos König Ludwig II.
Rund 200 Meter über der Pöllatschlucht erinnern zwei Königsschlösser an einen Herrscher, dem die Musik und die Kunst wichtiger waren, als Kriege zu führen und Macht zu besitzen. Was ihn ja durchaus sympathisch erscheinen lässt. Andererseits: Ein Träumer, homosexuell womöglich und betriebswirtschaftlich eine glatte Null, als bayerischer Monarch, auf dessen Schultern das Wohlergehen eines gesamten Volkes ruht? Dessen Aufgabe es sein sollte, vorauszudenken und stets einen Schritt schneller zu sein, als andere Monarchen. Konnte das gut gehen?
Ein Fall für Aktenzeichen XY
Es ging nicht gut. Der „Märchenkönig“ wurde am 14. Juni 1886 gegen 11 Uhr in der Nähe von Schloss Berg am Starnberger See tot aus dem Wasser gezogen. Zusammen mit seinem Arzt, Professor Dr. Bernhard Gudden. Todesursache? Rätselhaft und ungeklärt. Heute wäre der mysteriöse Königstod ein typischer Fall für Rudi Cerne und sein Aktenzeichen XY ungelöst. Sachdienliche Hinweise am besten an die Bayerische Schlösserverwaltung oder an jedes europäische Königshaus.
Immerhin ist nach dem rätselhaften Tod von Ludwig II. ein Mythos entstanden. Und ein Schloss im Allgäu, das weltweite Berühmtheit erfahren hat. Im Jahre 1869 hatte Ludwig II. seine engen Mitarbeiter damit beauftragt, den Bau Neuschwansteins zu planen – gleich neben Schloss Hohenschwangau. Das hatte Ludwigs Vater, Maximilian II., in der Zeit von 1832 bis 1836 auf den Ruinen der Ritterburg Schwangau aus dem 12. Jahrhundert wiederaufbauen lassen. Ein flüchtiger Blick genügt heute, um zu erkennen: Die Königsschlösser sind ebenso verspielt, verträumt und geheimnisvoll, wie der einstige Monarch es gewesen sein soll. 1884 war das Wunderwerk vollendet, 15 Jahre nach Baubeginn. Na ja, teilweise zumindest. Denn von ursprünglich 80 geplanten Räumen sind lediglich deren 15 fertig geworden. Sie sollten die Bühnenwelt von Richard Wagner verkörpern und in Form einer beeindruckenden Architektur umsetzen. Wagner und dessen Musik waren dem König ans Herz gewachsen. Er verehrte den Komponisten. Und so schrieb Ludwig einst an den geliebten Musiker: „Die Burg soll im echten Styl der alten deutschen Ritterburgen gebaut werden und Reminiscenzen aus Thannhäuser und Lohengrin enthalten.“
Für Ludwig schien von Anfang an klar: Er wollte dieses neue Zuhause nicht (nur) zum Regieren haben. Eine Aufgabe, die er ohnehin nur mit Unbehagen und Widerwillen erledigte. Nein, dieses Schloss sollte dazu dienen, Muße zum Träumen zu finden. Die Augen schließen zu können, um die Sicht freizumachen für andere Bilder als jene, die die reale Welt zu bieten hatte. Sinnieren und Fabulieren, danach stand dem bayerischen König im Ostallgäu der Sinn. Doch es war ihm nur 172 Tage lang vergönnt, in seinem Traumschloss zu wohnen. Dann wurde er für geisteskrank erklärt und zum Starnberger See gebracht. Kurze Zeit später fand man ihn tot im Wasser (siehe oben). Tot oder lebendig? Für die vielen Königstreuen, die sich in Vereinen zusammengetan haben, lebt er noch immer. Für Janet Marie Chvatal auch. Die Frau ist zierlich und klein. Man wird das Gefühl nicht los, als müsse sie ständig auf den Zehenspitzen stehen: beim Tanken an der Zapfsäule, beim Ziehen eines Zugfahrscheins, beim Ordern in der Eisdiele. Hier am Ufer des Forggensees allerdings muss sie sich nicht strecken, um einen freien Blick auf jenes Gebäude zu haben, das majestätisch mitten in der Ostallgäuer Bergwelt thront: Schloss Neuschwanstein. Janet Marie Chvatal ist eine amerikanische Sängerin. Seit sie im Allgäu lebt, dreht sich bei ihr vieles um dieses Märchenschloss und dessen einstigen Besitzer. Ihr Leben ist geprägt von König Ludwig II.
Mythos Ludwig II. lebt weiter
„Ein wunderbarer Mensch“, sagt Chvatal. Sie ist tief eingetaucht in das Leben des früheren bayerischen Monarchen, aus beruflichen Gründen. Stets gehörte sie als Kaiserin Sisi zu jenem Ensemble, das in Ludwig-Musicals die fantastische Geschichte des Märchenkönigs nachspielte. Am Rande des Forggensees hat Musical-Produzent Stephan Barbarino vor 15 Jahren sogar eigens ein opulentes Festspielhaus in die Höhe ziehen lassen, um auf der Bühne dauerhaft an Ludwig II. zu erinnern. Auch so ein geplatzter Traum. Seine Inszenierungen und auch die Nachfolgeproduktionen sind aus finanziellen Gründen inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Das Festspielhaus aber ist geblieben. Und auch die Erinnerungen an einen Schloss-Bauherrn. „Für mich wird er ewig leben“, sagt die amerikanische Sängerin und blickt mit glänzenden Augen hinüber zu Neuschwanstein. Und nochmals das Liebeskenntnis: „Ein wunderbarer Mensch. Er hatte viele Visionen und das Gespür für Fortschritt. Immerhin gab es im Schloss Telefon. Und er zahlte seinen Bauarbeitern Krankengeld.“
Da liegt es auf der Hand, dass diese zierliche Frau einen zum Mann genommen hat, der sie täglich oder stündlich an den bayerischen Monarchen erinnert. Marc Gremm heißt er und ist wie sie Profisänger. In den letzten Musical-Inszenierungen verkörperte er den König. Sisi und Ludwig, wohnhaft im Allgäu, sie aus den USA, er aus dem württembergischen Kirchheim/Teck: Ein Traumpaar, wie es der beste Heimatfilm nicht besser hätte inszenieren können. Beide sind dem Mythos Ludwig II. verfallen. Weshalb sie jedes Jahr Ende August/Anfang September anlässlich des Geburtstags des Monarchen zur Ludwig-Gala einladen. Für Janet Marie Chvatal und Marc Gremm ist das Interesse an Ludwig eine Selbstverständlichkeit: „Wer ins Allgäu kommt, muss sich auch mit dem früheren König auseinandersetzen.“ Jährlich 1,3 Millionen Menschen denken ähnlich.
Freddy Schissler
Sehenswertes auf Neuschwanstein:
Sängersaal: Der prunkvolle Saal mit Wandbildern und Motiven aus Tristan, Lohengrin und anderen Wagner-Opern, ähnelt der Sängerhalle in der Wagner-Oper Tannhäuser. Ludwig II. ließ ihn errichten, um dort Konzerte zu veranstalten. Dazu ist es allerdings aufgrund seines frühen Todes nicht mehr gekommen. Dafür finden heute jedes Jahr die Schlosskonzerte mit namhaften Orchestern statt. Jedes Jahr im September locken sie ein internationales Publikum an diesen märchenhaften Ort.
Thronsaal: Ein reich verzierter Saal im byzantinischen Stil, der sich über zwei Stockwerke erstreckt. Dem Namen wird dieser Raum allerdings nicht ganz gerecht. Denn einen Thron gibt es hier nicht. Der Grund: Bevor Ludwig II. Größe und Form des Throns bestimmen konnte, starb er. Die Ausstattung des Saals allerdings hatte er noch anordnen können. Er sollte ihn an die Münchner Allerheiligenkirche erinnern. Aber auch Ähnlichkeiten mit der Sophienkirche in Konstantinopel erkennt man. Die Wände zieren zahlreiche Bilder. Zum Beispiel jenes Motiv, das Christus in der Glorie mit Maria und Johannes inmitten von Engeln zeigt.
Schlaf– und Badezimmer: Nicht nur Sänger– und Thronsaal ließ der bayerische Monarch prunkvoll herrichten, selbst das Betreten des Badezimmers musste ein Aha-Erlebnis sein. Sichtbarer Beweis dafür: Die kippbare Waschschüssel aus Silber, eingelassen in eine dunkelblaue Marmorplatte des Waschtischs. Oder der Wasserspender. Er ähnelt einem mächtigen Schwan und ist in versilbertem Bronze gearbeitet.
Speisezimmer: Ein kleines Zimmer, da der König keine Gesellschaft mochte beim Essen. Allerdings wollte er auch in dieser Räumlichkeit nicht auf die Kunst verzichten und so entdeckt man hier ebenfalls spannende Malereien.
Küche: Sie wurde, bedenkt man die Zeit damals, mit modernster Technik ausgestattet. Zum Beispiel mit einem großen Herd und einem Backofen.
Man entdeckt zudem eine Anrichte, eine große und eine kleine Spießbraterei oder eine Rostbraterei, die sogar eine Vorrichtung bot, in der die Teller warm gehalten werden konnten. Gleich neben der Küche befinden sich der Anrichteraum mit eingebautem Geschirrschrank und verglaster Loge für den Küchenchef sowie die Spülküche.
Das Schloss ist fast das ganze Jahr für Besucher geöffnet. Eintreten kann man allerdings nur im Rahmen einer Führung, die eine gute halbe Stunde dauert. Der Besucher sollte sein Auto spätestens in Hohenschwangau stehen lassen und dann entweder zu Fuß, mit dem Bus oder der Pferdekutsche zum Schloss Neuschwanstein aufbrechen, um sich hier eine wenig verzaubern zu lassen.
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